Impuls zum 22.03.2020
von Ute Zeilmann (Wertheim), Mitglied der pax christi-AG Migration
Einstieg
Ich bin mir sicher, jeder und jede hat zu Hause eine Kerze, die mehr bedeutet, als stimmungsvolles Kerzenlicht zu zaubern: Das kann eine Osterkerze sein, eine Friedenskerze, eine Taufkerze, eine Hochzeitskerze, eine Kerze, die für Solidarität steht. Und wer noch keine solche besondere Kerze, findet vielleicht gerade jetzt die Zeit, sich eine persönliche Kerze der Solidarität und der Hoffnung zu gestalten, die durch die nächsten Wochen trägt. Zünden Sie diese Kerze an. Wer mag kann den Taizégesang „Christus, dein Licht“ dazu singen.
Gedanken zum Tag und zur Situation
Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder hat die gegenwärtige Corona-Pandemie als „Charaktertest unse-rer Gesellschaft“ bezeichnet. Er meint damit vor allem auch die Frage, wie sehr jeder/jede Einzelne bereit ist, sich an die Empfehlungen der Regierungen und der medizinischen Profis zu halten. Den Charaktertest bezieht Markus Söder auf unsere Solidarität und Verantwortung vor allem gegenüber vorerkrankten, gesundheitlich schwächeren und älteren Menschen in unserem Land. Alle, die jetzt noch die letzten Stunden, bevor nicht lebensnotwendige Geschäfte schließen, zum Shopping nutzen, die immer noch in geöffneten Eiscafés die Sonne genießen wollen oder nach der Schließung von Bars, Gaststätten und Clubs zu privaten Corona-Partys einladen, werden möglicherweise bei diesem Test schlecht abschneiden.
Doch – sind wir nicht alle in Deutschland und in den anderen Staaten der EU schon längst im Charaktertest durchgefallen und zwar mit voller Absicht, weil Regierungsverantwortliche erzitterten vor rechtsnationalistischen, rechtspopulistischen Stimmen in bürgerlichen Gewand? Fehlende Solidarität zeigt sich nicht erst in Menschen, die nicht zu Hause bleiben wollen, sich auch von einem Virus nicht einschränken lassen wollen. Politisch zeigt sich der miese Charakter und die fehlende Solidarität in den überfüllten Flüchtlingscamps auf griechischen In-seln, im Alleinlassen Italiens und Griechenlands seit 2011, mit dem Einstellen der staatlichen Seenotrettung, mit einem übertriebenen Aufwand des EU-Außengrenzenschutzes und in einer quasi nicht vorhandenen Bereitschaft, legale Zuwanderungswege zu erschließen. Und der echt korrupte und verängstigte Charakter zeigte sich in den Abkommen mit Drittstaaten, wie Libyen oder der Türkei, um von Krieg und Elend geflüchtete Menschen aus der EU rauszuhalten. Auch im jüngsten Test, die Situation im türkisch-griechischen Grenzgebiet humanitär zu lösen, versagte die europäische Gesellschaft, eben auch, weil vorher schon so wenige Punkte im Charaktertest gesammelt worden sind.
Wir sind gespalten: Solidarität wird jetzt politisch gefordert, weil es um die Menschen geht, die hier innerhalb der Grenzen Deutschlands wohnen. Solidarität mit Menschen, die noch nicht hier wohnen, aber Menschen sind und auf dieser Erde wohnen, wurde von den wenigsten Regierungen der EU-Staaten in den vergangenen Monaten und Jahren gefordert. Jetzt in der Corona-Krise von einem Charaktertest zu sprechen ist daher fast zynisch.
Zynisch ist aber wohl auch, dass wir jetzt am Sonntag den Laetare-Sonntag begehen. Freut Euch – worüber sollen wir uns denn jetzt freuen? Über ein überlastetes Gesundheitssystem? Über ein Totschweigen anderer politischer Probleme? Über eine deutlich zu Tage tretende Spaltung unserer Solidargemeinschaft, die innerhalb nationaler Grenzen zusammenhält, aber nicht über Staatsgrenzen hinweg? Spaltungen sind leider nichts Neues: Im Evangelium des 4. Fastensonntags ist von einer Spaltung die Rede, die Jesus hervorruft, der am hochheiligen Ruhetag eine medizinische Dienstleistung verrichtet. Würden jetzt gerade am Sonntag alle medizinischen Fachkräfte die Arbeit einstellen, wären wohl noch mehr Tote zu beklagen, doch darum geht es in dieser Erzählung vorrangig nicht. Lesen Sie sich diese doch erstmal in einer gekürzten Fassung nach dem Johannesevangelium durch.
Bibeltext (Joh 9, 1.6-9.13-17.34-38)
In jener Zeit sah Jesus einen Mann, der seit seiner Geburt blind war. Jesus spuckte auf die Erde; dann machte er mit dem Speichel einen Teig, strich ihn dem Blinden auf die Augen und sagte zu ihm: Geh und wasch dich in dem Teich Schiloach! Schiloach heißt übersetzt: Der Gesandte. Der Mann ging fort und wusch sich. Und als er zurückkam, konnte er sehen. Die Nachbarn und andere, die ihn früher als Bettler gesehen hatten, sagten: Ist das nicht der Mann, der dasaß und bettelte? Einige sagten: Er ist es. Andere meinten: Nein, er sieht ihm nur ähnlich. Er selbst aber sagte: Ich bin es. Da brachten sie den Mann, der blind gewesen war, zu den Pharisäern. Es war aber Sabbat an dem Tag, als Jesus den Teig gemacht und ihm die Augen geöffnet hatte. Auch die Pharisäer fragten ihn, wie er sehend geworden sei. Der Mann antwortete ihnen: Er legte mir einen Teig auf die Augen; dann wusch ich mich, und jetzt kann ich sehen. Einige der Pharisäer meinten: Dieser Mensch kann nicht von Gott sein, weil er den Sabbat nicht hält. Andere aber sagten: Wie kann ein Sünder solche Zeichen tun? So entstand eine Spaltung unter ihnen. Da fragten sie den Blinden noch einmal: Was sagst du selbst über ihn? Er hat doch deine Augen geöffnet. Der Mann antwortete: Er ist ein Prophet. Sie entgegneten ihm: Du bist ganz und gar in Sünden geboren, und du willst uns belehren? Und sie stießen ihn hinaus. Jesus hörte, dass sie ihn hin-ausgestoßen hatten, und als er ihn traf, sagte er zu ihm: Glaubst du an den Menschensohn? Der Mann antwortete: Wer ist das, Herr? Sag es mir, damit ich an ihn glaube. Jesus sagte zu ihm: Du siehst ihn vor dir; er, der mit dir redet, ist es. Er aber sagte: Ich glaube, Herr! Und er warf sich vor ihm nieder.
Auslegung
Ziel einer johanneischen Heilungserzählung ist nicht, dass eine Einzelperson geheilt ist, auch wenn wir uns nach Heilungen und dem Wunder, dass die Epidemie ganz schnell vorbeigeht, gerade sehr sehnen. Diese Heilung in der Geschichte ist ein positiver Nebeneffekt. Ziel des Evangelisten ist, ob die Menschen zu Glaubenden werden. Ein Ziel, das für die meisten Menschen in unserer Gesellschaft auf der Wunschliste weit nach unten gerutscht ist. Der Evangelist will Menschen davon überzeugen, dass Jesus, auch wenn er gegen die strenge Auslegung des mosaischen Gebotes verstößt, doch der Gesandte Gottes ist. Die Pharisäer sind sich uneins. Es entsteht eine Spaltung, die Jesu Tun provoziert hat. Kann Jesus der Gesandte Gottes sein, wenn er sich nicht an den Sabbat hält? Oder zeigt er sich gerade durch sein heilsames Wirken als Beauftragter Gottes, der eben mit der Heilung keine Sünde begangen hat? Die Gemeinde um den Evangelisten bearbeitet mit dieser Geschichte auch eine ganz persönliche Situation ihrer Zeit. Sie wurde wie der Geheilte ausgestoßen. Weil die Gemeinde auf Jesus vertraute und ihn nicht als Scharlatan und Sünder, sondern als Gesandten Gottes anerkannte, erfolgte wohl der Ausschluss aus dem Synagogen verband, und ein tiefer Graben zwischen jüdischer und christlicher Richtung entstand. Die eine Gruppe der Pharisäer, die meinten, Gott erwarte lediglich das strenge Einhalten von Geboten, die durch Menschenhand entstanden sind, wirken mit ihrer verengten Perspektive auf den unverfügbaren und unpassenden Gott auch blind, weil sie der Weite und Großzügigkeit Gottes misstrauten. Der Weite und Großzügigkeit Gottes misstrauen auch Menschen in Parteien, die sich das Adjektiv christlich geben, und das bis heute. Denn nur Solidarität in Zeiten gefährdeter Volksgesundheit zu fordern, aber keine großzügige und weite Solidarität in der Migrationsfrage zu zeigen, entleert das sozialethische Prinzip Solidarität.
Solidaritätsappelle und die Beschwörung eines Charaktertests verlieren im Spiegel der gefühlten Tatenlosigkeit politischer Akteure bei der Fluchtthematik und der Friedensarbeit an Glaubwürdigkeit. Doch genau diese Frage nach Glaubwürdigkeit stellt sich uns Christinnen und Christen: Glaubst Du an das Gottesbild, das der Menschensohn bringt? Glaubst Du an einem Gott, der weiter, großzügiger, solidarischer und gerechter ist, als religiöse oder politische Appelle und Vorschriften ihn bestimmen wollen? Womit wir im Moment aber leben müssen, ist, dass wir diesen Gott mal wieder nicht verstehen, schon gar nicht, inwieweit er in diesen Tagen und Wochen nun doch heilsam unter uns wirken will. Nur eine Idee gebe ich mit auf den Weg in die neue Woche voller weiterer Herausforderungen: Für eine humane Gesellschaft, die doch nun endlich beginnt, ihre eigenen Werte der Empathie, Rücksicht, Verlässlichkeit, Verantwortung und Solidarität neu zu reflektieren und deren globale Reichweite anzuerkennen, kann diese Corona-Auszeit sehr heilsam sein.
Gebet
Gott, klar wünsche ich mir auch, dass Du jetzt heilend eingreifst und die Ausbreitung des Virus stoppst und verhinderst, dass so viele Menschen lebensbedrohend daran erkranken. Doch das wäre nur ein magisches Verständnis von Dir und dem Gebet. Ich will eher danach fragen, wozu das passiert, was Du uns zeigen und er-kennen lassen willst? Es ist noch zu schwer, es zu verstehen, es ist schwer, jetzt an Dich als Heil und Leben wollenden Gott zu glauben, doch genau mit diesen Zweifeln stelle ich mich in diesen Tagen neben Jesus, als den Gekreuzigten, der seine Kraft auf seinem letzten Weg auch nicht eingesetzt hat, um sich selbst zu heilen und zu retten, sondern um uns alle aus der Macht des Todes zu retten. Hilf mir, dass ich genau daran in den nächsten Tagen und Wochen nicht zweifle, dass Jesu Tod uns von der Macht des ewigen Todes befreit hat. Mit dieser Befreiungserfahrung hilf mir, verantwortlich mit meiner und der Gesundheit meiner Mitmenschen umzugehen, denn Freiheit ist nicht misszuverstehen als Gleichgültigkeit und Willkür. Schenke uns Geduld, Vertrauen, Einsicht und Kraft, der Du lebst und wirkst, heute, morgen und bis in Ewigkeit. AMEN.
Liedvorschlag
Gotteslob 422 „Ich steh vor Dir mit leeren Händen, Herr“
Segen
Gott fülle Deine leeren Hände mit seiner Liebe.
Gott stärke Deine schwachen Hände mit seiner Kraft.
Gott führe Deine tastenden Hände zum Tun des Richtigen.
Gott mache Deine Hände zu Händen, die auch ohne Berührungen segnen.
Gott vernetze all unsere Hände, die wir uns sichtbar gerade nicht reichen sollen, damit alle eine Chance haben, gesund zu bleiben, gesund zu werden, und damit wir als solidarische Gesellschaft wieder die Möglichkeit fin-den, heil zu werden.
So segne und behüte uns Gott, der Vater, der Sohn und die Heilige Geistkraft. AMEN.